Cover
Inizia ora gratuitamente Deel 1 BBR .pdf
Summary
# Das objektive Recht und seine Definition
Das objektive Recht stellt die Gesamtheit der Rechtsregeln dar, die in einer Gesellschaft gelten, und steht im Gegensatz zu subjektiven Rechten, welche individuelle Ansprüche einer Person bezeichnen.
### 1.1. Recht und Rechte
#### 1.1.1. Recht und seine verschiedenen Bedeutungen
Der Begriff "Recht" ist allgegenwärtig und vielschichtig. Er kann sich auf individuelle Ansprüche beziehen, wie das Recht, etwas zu tun, oder die Menschenrechte. Des Weiteren kann er das gesamte Regelwerk einer Gesellschaft bezeichnen, z. B. das belgische Recht, oder einen spezifischen Bereich des gesellschaftlichen Lebens, wie das Umweltrecht. Die akademische Bezeichnung "Rechte" im Sinne von "Studium der Rechte" oder "Master in den Rechten" entstammt der historischen Tradition europäischer Universitäten, wo man bis zum "doctor utriusque iuris" (Doktor beider Rechte) promovieren konnte, was sowohl weltliches Privatrecht als auch kirchliches Kirchenrecht umfasste [21](#page=21).
#### 1.1.2. Relativität von Recht in Zeit und Raum
Recht ist kein statisches Gebilde, sondern passt sich zeitlich und räumlich an. Gesetze werden neu erlassen oder geändert, und die Rechtsprechung entwickelt sich ebenfalls weiter. Recht ist zudem national geprägt, wobei jeder Staat sein eigenes Rechtssystem entwickelt. Internationale Zusammenarbeit hat zur Entstehung von internationalem Recht auf globaler (z. B. Vereinte Nationen) oder regionaler Ebene (z. B. Europäische Union) sowie bilateralen oder multilateralen Beziehungen geführt, was oft zu einer Harmonisierung des nationalen Rechts führt [21](#page=21).
#### 1.1.3. Objektives und subjektives Recht
Für ein fundiertes Rechtsverständnis sind zwei Kernkonzepte zentral: objektives Recht und subjektive Rechte [21](#page=21).
* **Objektives Recht (le droit objectif)**: Bezeichnet die Gesamtheit der Rechtsregeln, die in einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort gelten. Dies wird auch als positives Recht (le droit positif) bezeichnet [21](#page=21) [22](#page=22).
* **Subjektives Recht (un droit subjectif)**: Bezeichnet einen individuellen Anspruch, den eine Person geltend machen kann. Ein subjektives Recht existiert nur, wenn es durch eine Regel des objektiven Rechts gestützt wird. Beispiel: Ein Käufer hat ein subjektives Recht auf Lieferung der gekauften Ware, da dies in den Artikeln 1603 und 1604 des alten Bürgerlichen Gesetzbuchs (alt BW) festgelegt ist. Aus der Verpflichtung des Verkäufers zur Lieferung (Art. 1604 Abs. 1 alt BW) folgt das subjektive Recht des Käufers auf Lieferung [21](#page=21) [22](#page=22).
### 1.2. Das objektive Recht
#### 1.2.1. Keine eindeutige Definition
Recht ist ein gesellschaftliches Phänomen. Das in einer Gesellschaft geltende Recht ist das objektive Recht, also die Gesamtheit der Rechtsregeln, die zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort anwendbar sind. Es gibt keine einheitliche Definition des objektiven Rechts [22](#page=22).
* **Henri De Page**: Definiert Recht als die Gesamtheit der Regeln, die unter der Garantie sozialer Zwangsmittel das Verhalten von Menschen in der Gesellschaft regeln [22](#page=22).
* **Dabin**: Definiert positives Recht als die mehr oder weniger kohärente und vollständige Gesamtheit von Verhaltensregeln, die im Voraus von der öffentlichen Autorität erlassen werden, unter Androhung einer von der Autorität selbst vorgesehenen und organisierten äußeren Zwangsmittels (öffentlicher Zwang) zur Verwirklichung einer bestimmten Ordnung in menschlichen Beziehungen, und zwar der für das Gemeinwohl günstigsten Ordnung [22](#page=22).
* **Andere Definitionen**: Beschreiben Recht als ein kohärentes Ganzes von Aktivitäten, bei denen nach bestimmten Verfahren unter Verwendung von Regeln oder anderen Modellen versucht wird, eine gerechte Ordnung in den gesellschaftlichen Beziehungen herzustellen, und wobei diese gerechte Ordnung bis zu einem gewissen Grad auch auf geordnete Weise durchgesetzt werden kann [22](#page=22) [23](#page=23).
* **Storme & Storme**: Beschreiben Recht als ein Ganzes von Verhaltensregeln und damit zusammenhängenden institutionellen Vorschriften, die von der gesellschaftlichen Autorität erlassen und durchgesetzt werden, mit dem Ziel einer effektiven, rechtssicheren und gerechten Ordnung der Gesellschaft [23](#page=23).
#### 1.2.2. Konstituierende Elemente in Definitionen
In den genannten Definitionen des objektiven Rechts tauchen wiederkehrende Elemente auf:
* Recht ist auf die normative Ordnung in und von der Gesellschaft gerichtet [23](#page=23).
* Recht ist ein Ganzes von Regeln und Vorschriften [23](#page=23).
* Recht wird von der gesellschaftlichen Autorität erlassen oder durch diese begründet [23](#page=23).
* Recht ist einklagbar/durchsetzbar [23](#page=23).
#### 1.2.3. Abstrakter Charakter
Das objektive Recht ist abstrakt, da es sich auf die Rechtsregeln konzentriert. Rechtsregeln sind Vorschriften, die von einer zuständigen Behörde erlassen, angewendet und durchgesetzt werden [23](#page=23).
* **Regelorientierte/doktrinäre Betrachtung (law in books)**: Konzentriert sich auf die Rechtsregeln und deren Zusammenhang untereinander. Sie gibt keinen Einblick in die tatsächliche Einhaltung und Nutzung der Regeln in der Gesellschaft (law in action) [23](#page=23).
* **Verhaltensorientierte Betrachtung (law in action)**: Geht vom Recht als Ganzes der regelmäßigen Verhaltensweisen aus, die Menschen bei der Bewältigung bestimmter gesellschaftlicher Probleme zeigen [23](#page=23).
Diese beiden Ansätze beeinflussen auch die Rechtswissenschaft:
* **Rechtsdogmatik**: Untersucht das objektive Recht an sich wissenschaftlich [23](#page=23).
* **Meta-juristische Studien**: Betrachten Recht als gesellschaftliches Phänomen und untersuchen Faktoren, die zur Entstehung, Ausgestaltung und Einhaltung von Rechtsregeln beitragen. Diese empirische Herangehensweise nutzt Disziplinen wie Anthropologie, Ökonomie, Philosophie, Geschichte, Politikwissenschaft, Psychologie und Soziologie [23](#page=23).
#### 1.2.4. Statischer Charakter
Das objektive Recht wird auch als statisches Gebilde betrachtet, das das bestehende, geltende Recht zu einem bestimmten Zeitpunkt widerspiegelt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass das Recht unveränderlich ist. Es unterliegt wie die Gesellschaft selbst Veränderungen in Zeit und Raum. Juristen müssen lebenslang lernen, da sich Gesetze und deren Auslegung ständig weiterentwickeln [24](#page=24).
#### 1.2.5. Materiell und formell Recht
Das objektive Recht wird weiter unterteilt in materielles Recht und formelles Recht [24](#page=24).
* **Materielles Recht**: Definiert den Inhalt von Rechtsregeln. Dazu gehören Rechte und Pflichten von Personen, Bedingungen für rechtsgültige Handlungen, Verbote bestimmter Handlungen und die Folgen dieser Handlungen oder bestimmter Ereignisse [24](#page=24).
* **Formelles Recht**: Legt die verschiedenen Verfahren fest, die zur Durchsetzung und Aufrechterhaltung des materiellen Rechts befolgt werden müssen. Dies umfasst z. B. Regeln des privatrechtlichen Prozessrechts zur Lösung von Streitigkeiten zwischen Privatpersonen, des Strafprozessrechts zur Verfolgung von Straftaten und des Verwaltungsrechtsprozessrechts zur Streitbeilegung mit öffentlichen Behörden [24](#page=24).
### 1.3. Subjektive Rechte
#### 1.3.1. Begriff
Bei der Betrachtung des subjektiven Rechts wird das Recht aus der Perspektive des Rechtssubjekts, das einen bestimmten rechtlichen Anspruch hat, analysiert [24](#page=24).
* **Van Gerven**: Definiert ein subjektives Recht als eine vom objektiven Recht an ein Individuum (Rechtssubjekt) anerkannte oder zuerkannte Herrschaft, die auf die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse abzielt [24](#page=24).
* Es handelt sich um eine durch das objektive Recht bekräftigte Befugnis oder einen Anspruch, den ein Rechtssubjekt auf eine bestimmte Sache oder gegenüber einer bestimmten Person ausüben kann, um eigene Ziele zu verwirklichen [24](#page=24).
---
# Subjektive Rechte und ihre Ausprägungen
Dieses Thema erläutert das Konzept des subjektiven Rechts als individuelle Ansprüche, die sich aus dem objektiven Recht ergeben, und stellt dessen verschiedene Ausprägungen sowie deren Zusammenhang mit Rechtssubjekten und Rechtsregeln dar.
### 2.1 Begriff und Abgrenzung subjektiver Rechte
#### 2.1.1 Definition und Wesen subjektiver Rechte
Ein subjektives Recht wird aus der Perspektive der Person, des sogenannten Rechtssubjekts, betrachtet, die einen bestimmten rechtlichen Anspruch hat. Es wird definiert als eine vom objektiven Recht an ein Individuum – das Rechtssubjekt – anerkannte oder zugewiesene Herrschaft, die auf die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse abzielt. Es handelt sich um eine durch das objektive Recht bekräftigte Befugnis oder einen Anspruch, den ein Rechtssubjekt gegenüber einer Sache oder einer bestimmten Person ausüben kann, um eigene Ziele zu verfolgen. Gegenüber einem solchen Anspruch steht oft eine klar definierte rechtliche Verpflichtung, die einem Dritten direkt durch eine Regel des objektiven Rechts auferlegt wird und deren Einhaltung von der Person, die ein Interesse an ihrer Erfüllung hat, vor Gericht durchgesetzt werden kann [24](#page=24) [25](#page=25).
#### 2.1.2 Zusammenhang mit dem objektiven Recht
Das objektive Recht und ein subjektives Recht sind untrennbar miteinander verbunden. Die Rechtsnormen des objektiven Rechts bestimmen, welche subjektiven Rechte eine Person besitzt. Ohne eine Regel aus dem objektiven Recht gibt es kein subjektives Recht. Beispielsweise bestimmt eine Regel aus dem objektiven Recht die Ansprüche und Befugnisse des Eigentümers eines Objekts. In den meisten Fällen legt der Gesetzgeber die Existenz eines subjektiven Rechts und dessen Reichweite fest. Wenn ein Recht in der Verfassung oder in einem internationalen Menschenrechtsvertrag anerkannt ist, handelt es sich um ein Grundrecht oder ein fundamentales Recht [25](#page=25).
> **Tipp:** Das objektive Recht ist das "Recht an sich" (Gesamtheit der Regeln), während subjektive Rechte die "Rechte von jemandem" sind, die aus diesen Regeln abgeleitet werden.
#### 2.1.3 Interessen im Rechtsverhältnis
Neben subjektiven Rechten erkennt das Recht auch Interessen an, denen kein gerichtlich durchsetzbarer subjektiver Recht gegenübersteht. Solche Interessen können jedoch rechtliche Relevanz erlangen und beispielsweise zur Einleitung von Maßnahmen durch den Jugendrichter führen. Die widerrechtliche Beeinträchtigung von Interessen eines Rechtssubjekts kann zu einem Schadenersatzanspruch führen [25](#page=25).
### 2.2 Vielfalt subjektiver Rechte
#### 2.2.1 Die "Legal Conceptions" von Wesley Hohfeld
Um die Vielfalt der Herrschaftsverhältnisse ("Ich habe das Recht auf...") innerhalb der subjektiven Rechte besser zu erklären, unterscheidet der amerikanische Rechtsphilosoph Wesley Hohfeld eine Reihe von Begriffen. Diese bezeichnen jeweils einen anderen Typ von Beziehung zwischen Personen. Er nennt sie "Legal Conceptions" und unterscheidet:
* **Anspruch (Claim):** Hierbei steht einer Forderung eine Pflicht gegenüber. Der Käufer hat beispielsweise einen Anspruch auf Lieferung der gekauften Ware, und der Verkäufer hat die Pflicht, diese Ware zu liefern. Solche Pflichten sind rechtlich verankert, und ein Verstoß gegen eine Pflicht führt zu Verantwortlichkeit. Ansprüche können sich nicht nur gegen Personen richten, sondern auch auf Güter bezogen sein; wer das Eigentumsrecht an einem Gut hat, kann verlangen, dass jeder dieses Eigentum respektiert (die Pflicht) [26](#page=26).
* **Freiheit (Privilege):** Ein subjektives Recht als Freiheit (privilege) erlaubt dem Rechtssubjekt, etwas zu tun, ohne dazu verpflichtet zu sein. Der Eigentümer eines Fahrrads hat beispielsweise die Freiheit, damit Fahrrad zu fahren oder auch nicht. Dies schränkt die Freiheit anderer nicht ein, ebenfalls Fahrrad zu fahren oder nicht. Gegenüber der Freiheit steht keine Verpflichtung. Freiheiten werden oft zusätzlich durch eine Verpflichtung anderer geschützt, nicht in die Ausübung dieser Freiheit einzugreifen (siehe Immunität) [26](#page=26).
> **Tipp:** Freiheiten sind Handlungsoptionen, die nicht verboten sind. Ein Recht als Freiheit bedeutet, dass man etwas tun "darf", ohne verpflichtet zu sein, es zu tun oder nicht zu tun.
* **Macht (Power):** Ein Recht als Macht (power) gibt dem Rechtssubjekt die Befugnis, Ansprüche und Freiheiten im Recht zu begründen. In der deutschen Rechtstheorie wird dies als Gestaltungsrecht bezeichnet, das Recht, etwas zu gestalten. Ein solches Recht umfasst die Möglichkeit, durch eine einseitige Handlung eine konkrete Rechtsbeziehung zu begründen, zu ändern oder zu beenden. Beispielsweise hat jemand das Recht, die Macht, sein Vermögen per Testament an einen Erben zu übertragen. Beim Tod des Erblassers erhält der Erbe das Eigentumsrecht am Nachlass. Der Erblasser hat also die Macht, für den Erben einen Anspruch zu begründen und für Nicht-Erben die Verpflichtung, dessen Eigentumsrecht zu respektieren [27](#page=27).
* **Immunität (Immunity):** Immunität (immunity) schützt vor der Macht anderer, einen Anspruch oder eine Freiheit zu ändern. Wer ein Recht hat, dem verleiht dies die Immunität, dass die andere Person keine Macht hat, dessen Ansprüche oder Freiheiten zu verändern. Fundamentale Freiheiten entziehen beispielsweise dem Staat das Recht, Gesetze zu erlassen, die diese Freiheiten abschaffen. In einer vertraglichen Beziehung genießt eine Vertragspartei Immunität gegenüber der anderen Vertragspartei, die nicht die Macht hat, einseitig die Vertragsbedingungen zu ändern [27](#page=27).
#### 2.2.2 Kontext von subjektiven Rechten
Aus diesem Überblick ergibt sich, dass subjektive Rechte sowohl im privaten Kontext, zwischen Individuen, als auch in der Beziehung zwischen Bürger und Staat bestehen können [27](#page=27).
### 2.3 Die Rechtsregel und das subjektive Recht
#### 2.3.1 Hypothetische Form der Rechtsregel
Subjektive Rechte werden aus Rechtsregeln abgeleitet, die vom objektiven Recht bestätigt werden. Die Rechtsregel hat als Verhaltensnorm oft eine hypothetische Struktur. Die Norm verknüpft bestimmte, allgemein beschriebene Fakten oder Handlungen mit bestimmten, allgemein beschriebenen Rechtsfolgen für diejenigen, an die sich die Norm richtet [27](#page=27).
Als Beispiel kann die in Artikel 6.5 BGB formulierte Norm über die außervertragliche Haftung dienen: "Jeder ist für den Schaden verantwortlich, den er durch sein Verschulden einem anderen zufügt." Wenn das Vorhandensein eines bestimmten Elements nachgewiesen wird, leitet sich daraus die Haftung der Person ab, durch deren Verschulden dieser Schaden entstanden ist. Aus den Rechtsfakten "Schaden" und "Verschulden", die in einem kausalen Zusammenhang stehen, ergibt sich als Rechtsfolge eine rechtliche Haftung des Täters. Dieser ist zur vollständigen Entschädigung des geschädigten Teils verpflichtet. Der Geschädigte hat dadurch ein subjektives Recht auf Entschädigung [27](#page=27) [28](#page=28).
#### 2.3.2 Das Leben in der Anwendung
Erst wenn und dadurch, dass der Inhaber eines subjektiven Rechts sein Recht geltend macht und/oder auf seine Rechtspflichten in Anspruch genommen wird, erwacht das objektive Recht zum Leben. Bei der Anwendung der Norm auf konkrete Fakten wird geprüft, ob diese Fakten der Hypothese in der Norm entsprechen. Wenn dies der Fall ist, ergeben sich daraus die Rechtsfolgen, die die Norm enthält [28](#page=28).
Die Anwendung einer scheinbar einfachen und abstrakt formulierten Rechtsregel kann zu vielen Anwendungs- und Interpretationsfragen führen. Im Beispiel des Artikels 6.5 BGB muss der Richter, der von einem Opfer wegen der Entschädigung von durch eine andere Person verursachten Schäden kontaktiert wird, prüfen, welche konkreten Fakten und Verhaltensweisen tatsächlich zu einer Schadenersatzleistung führen. Liegt überhaupt ein Verschulden vor? Kommt jeder Schaden in Frage oder nur der Schaden, der für den Täter vernünftigerweise vorhersehbar war? Verursacht das Verschulden tatsächlich den Schaden, oder gibt es noch andere Ursachen? Dieses Beispiel illustriert bereits, dass zur Erkenntnis dessen, was das Recht auf Schadenersatz beinhaltet, die Lektüre des Gesetzestextes nicht ausreicht und man auch die Anwendung durch die Richter im konkreten Fall berücksichtigen muss [28](#page=28).
### 2.4 Das Rechtssubjekt
#### 2.4.1 Begriff des Rechtssubjekts
Eine Rechtsregel enthält ein oder mehrere der folgenden Elemente: ein Rechtssubjekt, ein Rechtsobjekt, ein Rechtsfactum und eine Rechtsfolge. Das Rechtssubjekt ist die Person, für die die Rechtsnorm Folgen hervorruft, oder die Person, der das objektive Recht mögliche Rechte zuweist und Verpflichtungen auferlegt. Das Rechtssubjekt ist der Träger oder Inhaber von Rechten und Verpflichtungen. Es gibt zwei Arten von Rechtssubjekten: die physische oder natürliche Person und die juristische Person [28](#page=28).
#### 2.4.2 Die natürliche Person
Jeder Mensch ist eine natürliche Person und somit ein Rechtssubjekt. Es gibt keine Ausnahmen [28](#page=28).
##### 2.4.2.1 Handlungsfähigkeit und Rechtsfähigkeit
Alle Menschen sind grundsätzlich in gleichem Maße Personen und somit in gleichem Maße Träger von Rechten und Verpflichtungen. Sofern das Gesetz nichts anderes bestimmt, besitzt jede natürliche Person (und jede juristische Person) Rechtsfähigkeit und Handlungsfähigkeit [29](#page=29).
* **Rechtsfähigkeit:** Dies ist die Fähigkeit, Träger von subjektiven Rechten zu sein [29](#page=29).
* **Handlungsfähigkeit:** Dies ist die Fähigkeit, Rechtshandlungen vorzunehmen [29](#page=29).
Es kann vorkommen, dass ein Träger eines subjektiven Rechts nicht über die notwendige Handlungsfähigkeit verfügt, um dieses Recht auszuüben, aufgrund eines verminderten geistigen Vermögens oder Reifegrades. In diesem Fall ist die rechtsfähige Person handlungsunfähig [29](#page=29).
##### 2.4.2.2 Tiere und Pflanzen als Rechtsobjekte
Obwohl Tiere und Pflanzen einen gewissen Schutz genießen, beispielsweise aufgrund der Tierschutz- oder Naturschutzgesetzgebung, sind sie keine Personen. Nach antropozentrischer Herangehensweise des Rechts können Tiere und Pflanzen nur als Rechtsobjekte, d.h. als Gegenstand eines subjektiven Rechts, betrachtet werden. In dem Maße, wie sie durch das Recht geschützt werden, genießen sie keine subjektiven Rechte, sondern es handelt sich eher um Einschränkungen der subjektiven Rechte des Menschen an Natur oder Tier [29](#page=29).
Auch auf Tiere ruhen keine Pflichten. Wenn sie Schaden verursachen, können sie nicht zur Schadenersatzleistung herangezogen werden. Nach Artikel 6.17 BGB ist der Aufseher eines Tieres verschuldensunabhängig für den durch dieses Tier verursachten Schaden haftbar. Das bedeutet, dass der Aufseher haftet, auch wenn er kein Verschulden trifft. Sobald festgestellt ist, dass das Tier den Schaden verursacht hat, ist der Aufseher haftbar [29](#page=29) [30](#page=30).
#### 2.4.3 Die juristische Person
Das Recht verleiht auch Gruppierungen von Menschen, den juristischen Personen, Rechtsfähigkeit. Eine juristische Person ist eine Gruppierung von Rechtssubjekten oder ein für einen bestimmten Zweck abgetrenntes Vermögen, das gegenüber dem Recht als eine eigenständige Einheit behandelt wird. Die juristische Person kann als solche Träger von Rechten und Pflichten sein und ein eigenes Vermögen haben. Sie wird im Recht als eine Person gedacht, genannt und behandelt. Juristische Personen können sowohl privatrechtlicher als auch öffentlich-rechtlicher Natur sein [30](#page=30).
##### 2.4.3.1 Juristische Personen des öffentlichen Rechts
Juristische Personen des öffentlichen Rechts sind von der Regierung zur Erbringung öffentlicher Dienstleistungen errichtete juristische Personen. Beispiele hierfür sind der Belgische Staat, Gemeinschaften und Regionen, Provinzen, Gemeinden, interkommunale Vereinigungen, verselbstständigte Agenturen (z.B. das Integrations- und Einwanderungsamt) und berufsständische Organisationen (z.B. die Anwaltskammer) [30](#page=30).
##### 2.4.3.2 Privatrechtliche juristische Personen
Privatrechtliche juristische Personen werden auf private Initiative gegründet: die Gesellschaften, die Vereine ohne Gewinnzweck und die Stiftungen. Ihre Rechtsform wird in Belgien durch das Gesetzbuch der Gesellschaften und Vereine (WVV) geregelt [30](#page=30).
Eine Gesellschaft wird durch eine Rechtshandlung einer oder mehrerer Personen (Gesellschafter) gegründet, die einen Beitrag leisten. Sie verfügt über ein Vermögen und hat die Ausübung einer oder mehrerer bestimmter Tätigkeiten zum Gegenstand. Eines ihrer Ziele ist es, ihren Gesellschaftern einen direkten oder indirekten Vermögensvorteil auszuzahlen oder zu verschaffen. In Belgien gab es eine Vielzahl von Gesellschaftsformen, die Rechtspersönlichkeit besaßen oder nicht. Mit der Einführung des WVV im Jahr 2019 hat der Gesetzgeber das Gesellschaftsrecht grundlegend geändert und die Anzahl der Gesellschaftsformen mit Rechtspersönlichkeit auf folgende beschränkt [30](#page=30):
* Die Offene Handelsgesellschaft (OHG)
* Die Kommanditgesellschaft (KG)
* Die Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH)
* Die Genossenschaft (Gen)
* Die Aktiengesellschaft (AG) [30](#page=30).
Neben den Gesellschaften existieren auch der Verein ohne Gewinnzweck und die Stiftung [31](#page=31).
* **Verein ohne Gewinnzweck (vzw):** Wird von zwei oder mehr Personen (Mitgliedern) gegründet, um einen gemeinnützigen Zweck zu verfolgen, ohne Gewinnausschüttung an die Mitglieder [31](#page=31).
* **Stiftung:** Ist eine juristische Person ohne Mitglieder, deren Vermögen dazu bestimmt ist, einen gemeinnützigen Zweck zu verfolgen, ohne Gewinnausschüttung an die Gründer oder Verwalter. Eine Stiftung kann als gemeinnützig anerkannt werden, wenn der von ihr verfolgte Zweck philanthropischer, philosophischer, religiöser, kultureller, künstlerischer, pädagogischer oder wissenschaftlicher Natur ist (z.B. die König-Baudouin-Stiftung). Eine private Stiftung ist ein abgetrenntes Vermögen, das zur Verwirklichung eines bestimmten privaten gemeinnützigen Zwecks verwendet wird, wie der Erhalt eines Familienschlosses oder die Versorgung eines behinderten Kindes. Eine private Stiftung hat keine Mitglieder, aber wohl Verwalter [31](#page=31).
#### 2.4.4 Organe und faktische Vereinigungen
Juristische Personen handeln über ihre Organe. Dies sind die physischen Personen, die gemäß Gesetz oder Satzung der juristischen Person befugt sind, für die juristische Person zu handeln und diese zu vertreten [31](#page=31).
Nur die vom Gesetzgeber vorgesehenen Gruppierungen können, sofern sie die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllen, Rechtspersönlichkeit (la personnalité juridique) besitzen. Andere Gruppierungen von Menschen sind faktische Vereinigungen (une association de fait) ohne Rechtspersönlichkeit. Die Verfassung garantiert in Artikel 27 die Vereinigungsfreiheit (la liberté d’association), die keiner präventiven Maßnahme unterworfen werden kann. Dies bedeutet, dass jeder eine Vereinigung gründen kann, ohne verpflichtet zu sein, ihr die Form einer vzw zu geben [31](#page=31).
Eine faktische Vereinigung hat jedoch keine Rechtspersönlichkeit. Das Recht erkennt diese Vereinigung grundsätzlich nicht an, es erkennt nur ihre Mitglieder an. Ausnahmsweise gewährt das Gesetz faktischen Vereinigungen einen bestimmten Aspekt der Rechtspersönlichkeit. So können Gewerkschaften, die faktische Vereinigungen sind, Kollektivarbeitsverträge (CAO) schließen [31](#page=31).
### 2.5 Das Rechtsobjekt
#### 2.5.1 Begriff des Rechtsobjekts
Das Rechtsobjekt ist der Gegenstand des subjektiven Rechts, der vom objektiven Recht dem Rechtssubjekt verliehene, weit gefasste Vorteil. Es ist der Gegenstand, über den ein Rechtssubjekt seine subjektiven Rechte ausüben kann. Auf Grundlage des Rechtsobjekts können die subjektiven Rechte in zwei Hauptkategorien eingeteilt werden: die politischen subjektiven Rechte und die bürgerlichen subjektiven Rechte [32](#page=32).
#### 2.5.2 Politische subjektive Rechte
Politische Rechte sind die Rechte und Befugnisse des Bürgers, an der Verwaltung des Staates und am Leben im Staat teilzunehmen. Sie können unterteilt werden in [32](#page=32):
* **Politische Freiheiten** (z.B. die Meinungsfreiheit) [32](#page=32).
* **Partizipationsrechte**, die einer Person die Teilnahme an der staatlichen Politik ermöglichen (z.B. das Wahlrecht) [32](#page=32).
* **Sozioökonomische Rechte**, die einer Person das Recht auf Basisversorgung (z.B. Bildung) und finanzielle Leistungen (z.B. Sozialversicherungsleistungen) gewähren [32](#page=32).
Streitigkeiten über politische subjektive Rechte werden von den ordentlichen Gerichten entschieden. Der Gesetzgeber kann jedoch auch Verwaltungsgerichte dafür einrichten (Art. 145 GG) [32](#page=32).
#### 2.5.3 Bürgerliche subjektive Rechte
Bürgerliche Rechte verleihen einer Person die Befugnis, ihre individuelle Lebenssphäre zu regeln. Sie können unterteilt werden in [32](#page=32):
* **Extramonale Rechte** (nicht monetär bewertbar, wie Persönlichkeitsrechte) [32](#page=32).
* **Monetäre Rechte** (monetär bewertbar, wie Forderungsrechte, Sachenrechte und Urheberrechte) [32](#page=32).
Die ordentlichen Gerichte entscheiden über Streitigkeiten bezüglich bürgerlicher subjektiver Rechte (Art. 144 GG) [32](#page=32).
### 2.6 Das Rechtsfactum
#### 2.6.1 Begriff des Rechtsfactums
Ein Rechtsfactum ist ein Faktum, an das eine Rechtsregel Rechtsfolgen knüpft [32](#page=32).
---
# Die Rolle des Rechts in der gesellschaftlichen Ordnung
Die gesellschaftliche Ordnung bedarf zwingend rechtlicher Regelungen, um Chaos und Konflikte zu vermeiden, wobei verschiedene Theorien die Legitimität staatlicher Autorität und die Entstehung von Rechtssystemen beleuchten.
### 3.1 Notwendigkeit der Rechtsordnung in der Gesellschaft
#### 3.1.1 Ordnungsfunktion des Rechts
Wo Menschen zusammenleben, entsteht ein Bedürfnis nach Ordnung, da sie sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Interessen haben. Verlangen, Leidenschaften, Ehrgeiz und Egoismus können in einer Welt der Knappheit zu Konflikten führen. Selbst in einfachen Gemeinschaften ohne formelle Gesetzgebung existieren informelle Verhaltensregeln, die in Gebräuchen, Moral oder Religion verankert sind. Ob diese als Recht gelten, hängt von der Betrachtungsweise ab: entweder gedrags- oder regelorientiert [34](#page=34).
##### 3.1.1.1 Die gedragsgeorientierte Betrachtung
In dieser Perspektive wird das Recht als das Gesamtheit der regelmäßigen Verhaltensweisen verstanden, die Menschen zur Bewältigung gesellschaftlicher Probleme anwenden. Dies ist charakteristisch für die Rechtssoziologie, die Recht als soziales Phänomen betrachtet. Die Rechtssoziologie untersucht, wie Recht entsteht, funktioniert, sich verändert und angewendet wird, sowie seine Auswirkungen auf Verhalten, Kultur, Organisation und Struktur der Gesellschaft. In wenig komplexen Gesellschaften gelten solche Verhaltensregeln als Rechtsregeln, wenn sie dieselben Sachverhalte betreffen (z. B. Güter, Schulden, Ehen) und dieselbe ordnende Funktion erfüllen wie formelle Rechtsregeln eines organisierten Staates [34](#page=34).
> **Tip:** Die gedragsgeorientierte Betrachtung des Rechts, oft als "law in action" bezeichnet, konzentriert sich auf die tatsächliche Anwendung und Wirkung von Regeln im sozialen Leben, im Gegensatz zu den formellen Regeln selbst.
##### 3.1.1.2 Die regelorientierte Betrachtung
Die im vorliegenden Buch verwendete regelorientierte Betrachtung versteht Recht als eine Sammlung von Regeln, die von oder durch gesellschaftliche Autorität erlassen und durchgesetzt werden. Diese Regeln sind normativ und schreiben vor, wie sich Menschen verhalten sollen, unabhängig davon, ob dies tatsächlich geschieht (das sogenannte "law in books") [36](#page=36).
> **Tip:** Die regelorientierte Betrachtung betont den normativen Charakter des Rechts und seine institutionelle Verankerung durch eine staatliche oder staatlich anerkannte Autorität.
In dieser Sichtweise verlangt Recht eine gewisse Institutionalisierung. Informelle Verhaltensregeln gelten in dieser Perspektive nicht als Rechtsregeln [35](#page=35).
#### 3.1.2 Vermeidung von Chaos und Konflikten
Die normative ordnende Kraft des Rechts zielt darauf ab, Chaos und Konflikte in einer Gesellschaft zu verhindern. Fehlen rechtlicher Regeln, droht das Recht des Stärkeren, bei dem Macht und Gewalt die bestimmenden Faktoren sind, und die Freiheit sowie die Interessen der Schwächeren geraten in Gefahr. Die Erlangung und Aufrechterhaltung von Macht führt zu Auseinandersetzungen und Konflikten. Ein institutionalisiertes Rechtssystem, das vom Staat erlassen und durchgesetzt wird, soll dieses Chaos verhindern, indem es die Gesellschaft ordnet. Dies illustriert das Sprichwort "Ubi societas, ibi ius" – wo eine Gesellschaft ist, da ist Recht [37](#page=37).
> **Tip:** Das Prinzip "Ubi societas, ibi ius" (Wo eine Gesellschaft ist, da ist Recht) unterstreicht die untrennbare Verbindung zwischen sozialer Organisation und Recht.
### 3.2 Theorien zur Legitimität staatlicher Autorität und Entstehung von Rechtssystemen
Das staatliche Autorität leitet seine Legitimität teilweise aus seiner ordnenden Funktion ab. Die Art und Weise, wie der Staat ordnet, hat sich im Laufe der Geschichte stark gewandelt, von autokratischer bis hin zu parlamentarischer Herrschaft. Mit dem Aufkommen des modernen Staates haben sich Theorien des Gesellschaftsvertrags herausgebildet, die die Entstehung staatlicher Autorität und die Beziehung zwischen Staat und Individuum als metaphorischen Gesellschaftsvertrag oder Gesellschaftsvereinbarung beschreiben [38](#page=38).
#### 3.2.1 Thomas Hobbes: Homo homini lupus
Thomas Hobbes (1588-1679) sah die Angst vor Chaos am stärksten ausgeprägt. Er bezog sich auf die Idee "homo homini lupus" – der Mensch als Wolf für den Mitmenschen. In seinem Werk "Leviathan" argumentierte er, dass die menschliche Motivation im Streben nach Eigeninteresse und Selbstbewahrung liegt, selbst wenn dies auf Kosten anderer geht. Dies kann zu Konflikten und einem "Krieg aller gegen alle" führen, oder zumindest zu Unsicherheit über die Früchte eigener Handlungen und somit zu einem unglücklichen Leben .
Um diese Situation zu vermeiden und sicherzustellen, dass jeder das tun kann, was für sein Eigenleben notwendig ist, formulierte Hobbes Naturgesetze (lex naturalis). Ein Naturgesetz ist eine allgemeine Regel, die die Vernunft erkennt und Handlungen verbietet, die das Leben schädigen. Diese Naturgesetze schränken das natürliche Recht auf Selbsterhaltung ein, indem sie Grenzen für die Mittel setzen, die zur Selbsterhaltung eingesetzt werden. Das umfassendste Naturgesetz ist das Streben nach Frieden, dem alle anderen Naturgesetze dienen. Menschen müssen bereit sein, zugunsten des Friedens auf Ansprüche auf Güter zu verzichten, die sie für ihre Selbsterhaltung benötigen, und sich auf Mittel zu beschränken, die sie ohne Konflikte mit anderen nutzen können. Vereinbarungen müssen eingehalten werden .
Hobbes hielt es jedoch für absurd anzunehmen, dass Menschen selbst ein groß angelegtes oder kleinteiliges Übereinkommen über diese Einschränkungen der Selbsterhaltung treffen und einhalten könnten, da kurzfristiges Eigeninteresse und Gewinn oft überwiegen. Um dies zu verhindern und die Einhaltung der Naturgesetze sowie der darin enthaltenen Ordnung zu gewährleisten, sei die Schaffung einer politischen Ordnung mit einem einzelnen Herrscher oder Souverän notwendig. Dieser Souverän legt konkret fest, welche Handlungen mit den Naturgesetzen vereinbar sind, erlässt daraufhin konkrete Regeln oder positive Gesetze und verfügt über die Macht, diese Gesetze mit Gewalt durchzusetzen und Streitigkeiten beizulegen .
Der Souverän erlangt diese Macht durch einen Gesellschaftsvertrag: Alle Menschen übertragen ihr natürliches Recht auf den Souverän und verpflichten sich gegenseitig, die Ausübung der Autorität durch diesen Souverän zu akzeptieren, seine positiven Gesetze zu befolgen und mitzuwirken. Der Gesellschaftsvertrag besteht zwischen den Menschen, die laut Naturgesetz verpflichtet sind, die Übereinkunft einzuhalten. Der Souverän selbst ist keine Vertragspartei. Die Menschen treffen keine Vereinbarung mit dem Souverän über die Ausübung seiner Macht, sondern übertragen ihm diese. Der Souverän ist daher keinen Beschränkungen unterworfen. Hobbes bevorzugte einen starken Souverän mit absoluter Macht .
#### 3.2.2 John Locke: Gewaltenteilung
John Locke (1632-1704) betrachtete den Gesellschaftsvertrag weniger als eine absolute Übertragung der Souveränität an den Herrscher. Für Locke schlossen sich freie und gleiche Individuen in einem ursprünglichen Naturzustand, der natürliche Rechte auf Leben, Gesundheit, Freiheit und Eigentum hat, einem Gesellschaftsvertrag an. In seinen "Two Treatises of Government" war er weniger pessimistisch bezüglich der menschlichen Natur: Menschen können ohne Staat zusammenleben. Bei Konflikten über die Missachtung natürlicher Rechte drohen jedoch Uneinigkeiten über die Tatbestandsfrage und die Höhe des Schadensersatzes .
Um dies zu verhindern, wird ein Gesellschaftsvertrag geschlossen, bei dem die Menschen eine dritte Partei, den Staat, bestimmen, um Uneinigkeiten zu vermeiden und zu schlichten. Dieser Staat kann die Naturrechte definieren (legislative Funktion) und die Rechte durchsetzen sowie Streitigkeiten darüber schlichten (exekutive Funktion mit der Befugnis zur Rechtsdurchsetzung). Locke sah diese beiden Gewalten getrennt, wobei die exekutive Macht der legislativen Macht untergeordnet ist. Wichtig für die Legitimität des Staates ist die Beteiligung der Bürger an der Ausübung der Macht durch Vertreter. Die gewählten Vertreter sind bei der Erfüllung ihres Amtes den Bürgern rechenschaftspflichtig .
Lockes Staatsmacht ist nicht absolut, sondern muss auf der impliziten Zustimmung der Mehrheit durch ihre Vertreter beruhen. Individuen haben ihre eigenen Rechte und somit ihre Freiheit nicht an den Staat abgetreten, sondern behalten ihre Souveränität. Laut Locke dient das Recht nicht dazu, Freiheit abzuschaffen oder einzuschränken, sondern sie zu bewahren und zu erweitern. Es besteht Volksouveränität. Wenn die Machthaber die Rechte der Bürger missachten und ihr Vertrauen verlieren, liegt eine Verletzung des Gesellschaftsvertrags vor, was zur Auflösung der bestehenden Macht führt. Bürger haben in diesem Fall auch ein Widerstandsrecht gegen den Staat .
> **Example:** John Lockes Ideen inspirierten maßgeblich die amerikanische Unabhängigkeitserklärung und die Verfassung der Vereinigten Staaten, insbesondere die Prinzipien der Gewaltenteilung und der natürlichen Rechte.
Lockes Einfluss als einer der Begründer des Liberalismus war später spürbar in der amerikanischen Declaration of Independence der Verfassung und der Bill of Rights. Diese verweisen auf und erwähnen die unveräußerlichen natürlichen Rechte der Menschen, die vom Staat respektiert werden müssen. Regierungen sind nur dann legitim, wenn sie die Zustimmung des Volkes haben. Ihr primäres Ziel ist der Schutz der natürlichen Rechte der Bürger. Sowohl der Mangel an Vertretung der Kolonien im britischen Parlament als auch die Missachtung ihrer Rechte waren für die Kolonisten eine Rechtfertigung, sich vom Königreich zu lösen. Die amerikanische Verfassung führte ein System von "Checks and balances" zwischen Exekutive, Legislative und Judikative ein .
#### 3.2.3 Jean-Jacques Rousseau: La volonté générale
Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) ging in "Du contrat social" von einer kollektiven statt einer individuellen Betrachtung des Gesellschaftsvertrags aus. Das Individuum ist von Natur aus frei, aber Machtbeziehungen können eine Person unterdrücken. Um die Freiheit wiederherzustellen, ist ein Gesellschaftsvertrag nötig, bei dem die Menschen ihren individuellen Willen gegen den allgemeinen Willen (la volonté générale) austauschen, der Ausdruck des Ganzen ist. Der Bürger muss im Interesse dieses allgemeinen Volkswillens handeln. Das Volk behält seine Macht, und die Regierung muss diesen Volkswillen ausführen. Dabei üben die Individuen ihre Macht direkt aus, durch Teilnahme an Volksversammlungen und nicht über Vertreter, die zu viel Macht erwerben könnten .
Die Regierung muss den allgemeinen Volkswillen allen Bürgern auferlegen. Im Gegensatz zu Locke steht hier nicht die individuelle Freiheit im Vordergrund, sondern der kollektive Volkswille und die kollektive Freiheit. Die Bürger geben ihre individuelle natürliche Freiheit für diesen Volkswillen auf und können nur innerhalb der bürgerlichen Freiheit handeln, die ihnen der Volkswille gewährt. Die Gehorsamkeit gegenüber diesem allgemeinen Willen garantiert laut Rousseau eine individuelle Freiheit, die moralisch höher steht als das Befolgen des eigenen Willens, der Vorlieben und der Begierden .
### 3.3 Die normative Natur des Rechts
Diese Beispiele aus der politischen Philosophie illustrieren, dass Ordnung nicht an sich existiert, sondern mit der Frage verbunden ist, wie der Mensch sein Leben in Freiheit und Eigenheit führen kann und gleichzeitig im Einklang mit der Freiheit und Eigenheit anderer. Das Recht, erlassen von der dafür bestimmten gesellschaftlichen Autorität, wird diesem Leben und Zusammenleben Richtung und Führung geben .
Dies geschieht auf normative Weise: Das Recht legt Normen für das Verhalten auf, sowohl für Privatpersonen als auch für öffentliche Institutionen, die in der Gesellschaft Autorität ausüben können. Die Ordnung ist nicht überall dieselbe; das objektive Recht ist nicht statisch, sondern entwickelt sich im Laufe der Zeit. Auch räumlich gibt es Unterschiede, da es kein universell geltendes positives Rechtssystem gibt .
Damit das Recht seine ordnende Funktion erfüllen kann, muss es zwei Erwartungen erfüllen: die der Rechtssicherheit und der Gerechtigkeit .
> **Tip:** Das Recht ist sowohl "law in books" (formelle Regeln) als auch "law in action" (tatsächliche Anwendung und Wirkung) und muss diesen beiden Dimensionen gerecht werden, um seine ordnende Funktion effektiv ausüben zu können.
---
# Recht und Rechtsunsicherheit
Rechtsunsicherheit untergräbt die Funktion einer Rechtsordnung, indem sie die Vorhersehbarkeit und Planbarkeit des eigenen Handelns erschwert [39](#page=39).
### 4.1 Die Bedingungen der Rechtsunsicherheit
Rechtsunsicherheit entsteht, wenn die Grundprinzipien einer Rechtsordnung nicht erfüllt sind. Diese Prinzipien umfassen Allgemeinheit, Vorhersehbarkeit, Klarheit und Beständigkeit [39](#page=39).
#### 4.1.1 Allgemeinheit
Das Recht muss allgemein anwendbar sein, was bedeutet, dass alle Personen, die unter den Geltungsbereich einer Rechtsregel fallen, auch tatsächlich von dieser Regel erfasst werden müssen. Ausnahmen und Abweichungen sind nur dann zulässig, wenn das Recht selbst dies vorsieht [39](#page=39).
#### 4.1.2 Vorhersehbarkeit
Rechtsunsicherheit entsteht, wenn das Recht nicht vorhersehbar ist. Rechtsunterworfene müssen in der Lage sein, die Rechtsfolgen ihrer Handlungen oder der Handlungen anderer zu kennen. Dies erfordert, dass das Recht erkennbar und zugänglich ist. Vorhersehbarkeit impliziert ferner, dass sich die staatlichen Organe an das Recht halten und dass Gerichte Streitigkeiten auf Grundlage des Rechts entscheiden. Es muss Vertrauen bestehen, dass diese Entscheidungen eingehalten und notfalls auch durchgesetzt werden [39](#page=39) [40](#page=40).
#### 4.1.3 Klarheit und Konsistenz
Nur klare Rechtsregeln ermöglichen es, das eigene Verhalten daran auszurichten, zu wissen, welches Verhalten von Mitmenschen zu erwarten ist, und die eigenen Rechte und Pflichten zu kennen. Klarheit setzt zudem voraus, dass Regeln nicht widersprüchlich sind und das Rechtssystem konsistent ist [40](#page=40).
#### 4.1.4 Beständigkeit
Ordnung ist nur möglich, wenn das Recht selbst nicht ständig geändert wird. Das Recht muss beständig sein. Dies bedeutet nicht, dass sich das Recht im Laufe der Zeit nicht ändern darf, aber wer eine Handlung in Übereinstimmung mit einer geltenden Rechtsregel vornimmt, muss prinzipiell darauf vertrauen können, dass diese Regel auch dann noch zur Anwendung kommt, wenn sie inzwischen geändert wurde. Das Verhalten an eine noch nicht in Kraft getretene Regel anzupassen, ist nicht möglich [40](#page=40).
### 4.2 Rechtsunsicherheit, formale Rechtsstaatlichkeit und Gesetzespositivismus
Rechtsunsicherheit betrachtet das Recht primär unter formalen Aspekten. Die Bedingungen der Rechtsunsicherheit sagen nichts über die materielle oder inhaltliche Güte des Rechtssystems aus [40](#page=40).
#### 4.2.1 Rechtsunsicherheit und die Rechtsstaatlichkeit in formeller Hinsicht
Rechtsunsicherheit ist eng mit dem Konzept des Rechtsstaates (rule of law) verbunden. In dieser Auffassung dürfen staatliche Organe Macht nur ausüben, wenn dies auf vereinbarten Regeln basiert und nicht willkürlich geschieht; sie sind an das Recht gebunden. Die formale oder enge Rechtsstaatlichkeit umfasst [40](#page=40) [41](#page=41):
* Jeden (auch die staatlichen Organe) der Obrigkeit unterstellt ist (Legalitätsprinzip) [1](#page=1) [41](#page=41).
* Die Gesetzgebungs- und Rechtsprechungsfunktionen getrennt sind [2](#page=2) [41](#page=41).
* Niemand über dem Gesetz steht [3](#page=3) [41](#page=41).
Diese formale Rechtsstaatlichkeit wird auch als "État légal" bezeichnet. Sie geht davon aus, dass die Rechtsfolge der korrekten Ausübung von Autorität Recht ist, ohne ein weiteres inhaltliches Prüfungsraster für die so erlassene und angewandte Rechtsregel [41](#page=41).
#### 4.2.2 Gesetzespositivismus
Die Entwicklung der Rechtsstaatlichkeit in formeller Hinsicht fiel mit der Entwicklung des Gesetzespositivismus in der Rechtsphilosophie zusammen. Der Positivismus beschränkt sich auf die Beschreibung realer Gesetzmäßigkeiten, unabhängig von religiösen und metaphysischen Dogmen. Der Gesetzespositivist konzentriert sich auf die Beschreibung konkreter und empirisch feststellbarer Erfahrungen und betrachtet das vom Gesetzgeber erlassene Gesetz als Hauptquelle des Rechts. Das Recht wird als geschlossenes System der Gesetzgebung verstanden, mit folgenden Grundsätzen [41](#page=41):
* (a) Die Willenserklärung des Gesetzgebers ist die einzige Rechtsquelle [41](#page=41).
* (b) Nur durch den Staat nach vorgeschriebenen Verfahren erlassene Regeln sind Rechtsregeln (Gesetzgebung im materiellen Sinne). Es gibt kein Recht außerhalb des Staates [41](#page=41).
* (c) Die Rechtswissenschaft ist eine wertfreie Disziplin, die eine objektive und beschreibende Analyse des Gesetzgeberwillens anstrebt, wie er sich im Gesetz manifestiert [41](#page=41).
* (d) Es besteht keine notwendige Verbindung zwischen Recht (Was tatsächlich ist) und Moral (Was sein sollte). Der Gesetzgeber ist bei der Verabschiedung von Rechtsregeln nicht an ethische Prinzipien oder moralische Werte gebunden [42](#page=42).
#### 4.2.3 Scheiternder Gesetzespositivismus: die Nürnberger Gesetze
Die Nürnberger Gesetze des nationalsozialistischen Deutschlands dienen als Beispiel dafür, dass formale Kriterien der Rechtsunsicherheit allein nicht ausreichen. Aus rein gesetzespositivistischer Sicht erfüllten die Nürnberger Gesetze die Kriterien der Rechtsunsicherheit: Sie wurden vom gesetzlich gewählten Parlament erlassen, waren in ihrer Beschreibung klar, und die Rechtsfolgen waren vorhersehbar. Dennoch handelte es sich dabei nicht um Recht im Sinne einer modernen demokratischen Gesellschaft, die die menschliche Würde und individuelle Freiheit achtet. Die Nürnberger Gesetze, die zur Entrechtung und Verfolgung der jüdischen Bevölkerung führten, wurden nach dem Krieg von den Alliierten aufgehoben [42](#page=42) [45](#page=45).
### 4.3 Die materielle Rechtsstaatlichkeit
Das Beispiel der Nürnberger Gesetze zeigt, dass die Erfüllung rein formaler Kriterien, die Rechtsunsicherheit gewährleisten, nicht ausreicht, um von einem wirksamen Recht sprechen zu können, insbesondere im Hinblick auf Gerechtigkeit. Auch die inhaltlichen Aspekte des Rechts müssen betrachtet werden [45](#page=45).
#### 4.3.1 Formale Demokratie
Die formale Demokratie konzentriert sich auf die Verfahren und Prozesse, die zu einer demokratischen Entscheidungsfindung führen: Wahlen und Mehrheitsentscheidungen. Der Inhalt der demokratischen Entscheidungsfindung ist hierbei nebensächlich; es wird von einer Demokratie gesprochen, sobald die Mehrheit der Stimmen erreicht ist. Demokratie ist in dieser Sicht werteneutral [45](#page=45).
#### 4.3.2 Materielle Demokratie
Die materielle Demokratie fordert, dass Demokratie mehr ist als eine rein funktionierende Entscheidungsfindungsverfahren. Sie erfordert, dass die Inhalte der Entscheidungen bestimmten Werten entsprechen [45](#page=45).
---
# Recht und Gerechtigkeit
Die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Recht und Gerechtigkeit ist essentiell für die Legitimität und Akzeptanz von Rechtssystemen, wobei sowohl formelle als auch materielle Gerechtigkeitskonzepte und deren theoretische Fundierungen beleuchtet werden.
### 5.1 Rechtfertigende Funktion der Gerechtigkeit
#### 5.1.1 Bedeutung der Gerechtigkeit für die Akzeptanz des Rechts
Damit objektives Recht eine ordnende Funktion erfüllen kann, muss es neben Rechtsicherheit auch Gerechtigkeit gewährleisten. Das römische Recht integrierte bereits die Idee der Gerechtigkeit im Begriff "ius". Gerechtigkeit ist entscheidend für die Akzeptanz und Einhaltung von Rechtsnormen, da Menschen Regeln nur befolgen, wenn sie normativ annehmbar sind und ihren Werten entsprechen. Wenn Gesellschaftsgruppen die staatliche Organisation als unvereinbar mit ihren Grundvorstellungen von Recht empfinden und das bestehende Recht als ungerecht wahrnehmen, kann dies zur Ablehnung der staatlichen Autorität führen, was bis hin zu Sezession oder Revolution reichen kann. Das Recht muss daher danach streben, als gerecht empfunden zu werden. Der römische Jurist Celsus definierte Recht als die Kunst des Guten und Billigen ("ius est ars aequi et boni") und Thomas von Aquino formulierte, dass nur Gerechtes Recht sein kann ("ius id quod iustum est") [47](#page=47).
### 5.2 Konzeptionen von Gerechtigkeit
#### 5.2.1 Allgemeine Gerechtigkeit (Moralität)
In ihrer weitesten Auslegung kann Gerechtigkeit als allgemeine Gerechtigkeit verstanden werden, die mit Moralität gleichgesetzt wird. Dieses Verständnis besagt, dass gerechtes Handeln dem moralisch Guten, Richtigen oder Pflichtmäßigen entspricht. Moralität ist jedoch subjektiv, da jeder Mensch eigene Vorstellungen von Gut und Böse, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit hat [48](#page=48).
#### 5.2.2 Rechtmäßigkeit (Hans Kelsen)
Der Rechtspositivist Hans Kelsen kritisiert die Abhängigkeit der Gerechtigkeitsbewertung von subjektiven moralischen Normen. Er sieht darin eine subjektive Vorgehensweise, die nicht zu einem rational erfassbaren Rechtssystem führe. Kelsen vertritt ein engeres Verständnis von Gerechtigkeit als soziale Friedenssicherung, die er als Rechtmäßigkeit bezeichnet. Rechtmäßigkeit liegt vor, wenn eine Rechtsregel in allen ihren Anwendungsbereichen konsequent angewendet wird, unabhängig von ihrer inhaltlichen moralischen Wertigkeit. Für Kelsen können sowohl demokratische als auch kommunistische oder autokratische Rechtsordnungen rechtmäßig sein, solange ihre Regeln konsequent angewendet werden. Die Gerechtigkeit einer Handlung wird demnach ausschließlich anhand ihrer Übereinstimmung mit einer gesetzlichen Norm beurteilt, losgelöst von moralischen oder ethischen Maßstäben [48](#page=48).
#### 5.2.3 Formale und materielle Gerechtigkeit
##### 5.2.3.1 Aristotelische Unterscheidungen
Aristoteles differenzierte in seiner Ethik Nkomacheia Gerechtigkeit im Kontext der Verteilung knapper Güter in der Gesellschaft. Er unterschied drei Arten von Gerechtigkeit [48](#page=48):
* **Verteilende (distributive) Gerechtigkeit:** Diese bezieht sich auf die Verteilung von Gütern, Rechten und Pflichten (Lusten und Lasten) innerhalb einer politischen oder sozialen Gemeinschaft. Das Prinzip lautet, dass jeder das Seine erhalten soll ("cuique suum tribuere"). Dies wird primär im öffentlichen Recht durch Steuern und Sozialleistungen umgesetzt. Dabei gilt der Gleichheitssatz: Gleiches muss gleich und Ungleiches ungleich behandelt werden, wobei für eine ungleiche Behandlung eine Rechtfertigung vorliegen muss, um Willkür zu vermeiden [48](#page=48).
* **Kriterien für die Verteilung:**
* **Gleichheit:** Jeder erhält einen gleichen Teil [48](#page=48).
* **Bedarf:** Mittel werden entsprechend den Bedürfnissen verteilt; Bedürftigere erhalten proportional mehr [49](#page=49).
* **Verdienst:** Wer die meiste Leistung erbringt oder am härtesten arbeitet, erhält mehr [49](#page=49).
* **Billigkeit:** Mittel werden ungleich verteilt; Bedürftige werden stärker begünstigt, andere erhalten möglicherweise nichts [49](#page=49).
* **Marktwert:** Verteilung basiert auf marktwirtschaftlichen Beiträgen (Produktion von Dienstleistungen und Gütern, Beschäftigung); wer mehr produziert, erhält mehr [49](#page=49).
* **Tauschgerechtigkeit (kommutative Gerechtigkeit):** Diese ist relevant für freiwillige Tauschverhältnisse zwischen Personen nach erfolgter Verteilung. Sie fordert eine Verhältnismäßigkeit im Austausch, unabhängig von Ansehen oder Verdienst einer Person. Ein Beispiel ist die Gleichwertigkeit zwischen dem Verkaufsgut und dem Kaufpreis im Vertragsrecht [49](#page=49).
* **Ausgleichsgerechtigkeit (retributive Gerechtigkeit):** Diese greift bei unfreiwilligen Tauschverhältnissen, die das Verteilungsgefüge stören, wie bei Schadenszufügung oder Diebstahl. Sie zielt auf die Wiederherstellung des Gleichgewichts durch Wiedergutmachung des erlittenen Verlusts und findet Anwendung im Haftungs- und Strafrecht [49](#page=49).
##### 5.2.3.2 Materielle Gerechtigkeit
In Rechtssystemen, die auf fundamentalen Werten basieren (explizit in Verfassungen oder implizit in allgemeinen Prinzipien), erhält Gerechtigkeit eine materiellere Ausgestaltung. In liberalen Gesellschaften, die individuelle Autonomie und Gleichheit betonen, ist der Schutz der Freiheit ("la liberté") von zentraler Bedeutung für eine gerechte Gesellschaft. Das Recht schränkt die Ausübung der Freiheit zum Schutz der Gleichheit aller ein und sucht einen Ausgleich zwischen Freiheit und den damit verbundenen Beschränkungen [49](#page=49).
### 5.3 Regelorientierte Gerechtigkeits- und Grundslagentheorieén
#### 5.3.1 Begriffsbestimmung
Recht muss Gerechtigkeitsanforderungen berücksichtigen, um ordnend zu wirken. Die historische Auffassung von Gerechtigkeit ist vielfältig und hat sich in verschiedenen Gerechtigkeitstheorien in der politischen und Rechtsphilosophie niedergeschlagen, die auch die Grundlage von Rechtssystemen bilden. Regelorientierte Theorien untersuchen, warum eine Regel gerecht ist und befolgt werden sollte. Sie basieren auf einer prinzipiellen Wahl eines Kriteriums, das bestimmt, welche Regel in einer Gesellschaft als Rechtsregel gilt. Dies begründet auch die Ausübung von Macht durch die Gesetzgeber als legitimes Autoritätshandeln und nicht nur als bloße Machtausübung [50](#page=50).
#### 5.3.2 Kategorien regelorientierter Theorien
Regelorientierte Theorien lassen sich in drei Hauptkategorien unterteilen:
1. **Formelle regelgeoriéntierte Theorien:** Diese orientieren sich an der Herkunft oder Quelle der Regeln als formales Kriterium für deren Gerechtigkeit. Das Kriterium kann personalisiert (z. B. ein Gott oder ein Herrscher) oder prozedural sein (z. B. demokratische Willensbildung oder Gesetzgebungsverfahren). Eine Regel gilt als gerechtfertigt, wenn sie nach diesem Kriterium erlassen oder angenommen wurde [50](#page=50).
> **Tip:** Formelle Theorien bieten gute Erkennbarkeit, ihnen fehlen jedoch Kriterien zur inhaltlichen Bewertung der Rechtsregeln [50](#page=50).
2. **Materielle regelgeoriéntierte Theorien:** Diese begründen die Gerechtigkeit von Regeln durch inhaltliche Rechtfertigungsgründe [50](#page=50).
3. **Descriptive regelgeoriéntierte Theorien:** Diese orientieren sich daran, ob das Recht in der Realität Geltung hat [50](#page=50).
Es existieren auch verhaltensorientierte Theorien, die sich auf die Rechtfertigung individuellen Verhaltens anhand moralischer Prinzipien konzentrieren und Tugenden, ethische Verpflichtungen oder die Folgen von Handlungen betonen [50](#page=50).
---
## Häufige fehler vermeiden
- Überprüfen Sie alle Themen gründlich vor Prüfungen
- Achten Sie auf Formeln und wichtige Definitionen
- Üben Sie mit den in jedem Abschnitt bereitgestellten Beispielen
- Memorieren Sie nicht ohne die zugrunde liegenden Konzepte zu verstehen
Glossary
| Term | Definition |
|------|------------|
| Objektives Recht | Das objektive Recht, auch positives Recht genannt, bezeichnet die Gesamtheit der Rechtsregeln, die zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort gelten und die Gesellschaft ordnen sollen. |
| Subjektives Recht | Ein subjektives Recht ist ein individueller Anspruch oder eine Befugnis, die das objektive Recht einer Person (dem Rechtssubjekt) gewährt, um eigene Bedürfnisse zu befriedigen und das eigene Ziel zu verfolgen. |
| Rechtssubjekt | Ein Rechtssubjekt ist eine Person (natürlich oder juristisch), die Träger von Rechten und Pflichten sein kann und für die Rechtsnormen rechtswirksam werden. |
| Rechtsregel | Eine Rechtsregel ist ein Gebot oder Verbot, das durch oder aufgrund staatlicher Autorität erlassen und durchsetzbar ist und das Verhalten von Personen in einer Gesellschaft ordnen soll. |
| Rechtsfeit | Ein Rechtsfeit ist ein Ereignis oder eine Tatsache, an die eine Rechtsregel bestimmte Rechtsfolgen knüpft, unabhängig davon, ob es sich um ein menschliches Handeln oder ein äußeres Ereignis handelt. |
| Rechtsfolge | Das Rechtsgefolge ist die Konsequenz oder Wirkung, die eine Rechtsregel an ein Rechtsfeit knüpft, wie das Entstehen, Ändern oder Erlöschen von Rechten, Pflichten oder Rechtszuständen. |
| Rechtsicherheit | Rechtsicherheit ist ein grundlegendes Prinzip, das sicherstellt, dass das Recht vorhersehbar, klar, allgemein anwendbar und beständig ist, damit Bürger ihr Verhalten daran orientieren können und die staatliche Ordnung verlässlich ist. |
| Rechtsstaat | Ein Rechtsstaat ist ein Staat, in dem die Staatsgewalt an Recht und Gesetz gebunden ist und dessen Organe nur im Rahmen der Gesetze handeln dürfen, um Willkür zu verhindern und die Rechte der Bürger zu schützen. |
| Rechtspositivismus | Der Rechtspositivismus ist eine Rechtsphilosophie, die das Recht auf das vom Gesetzgeber erlassene positive Recht beschränkt und eine Trennung von Recht und Moral vertritt, wobei die formale Gültigkeit und der Ursprung des Rechts im Vordergrund stehen. |
| materielles Recht | Das materielle Recht befasst sich mit dem Inhalt von Rechtsregeln, insbesondere mit den Rechten und Pflichten von Personen, den Voraussetzungen für rechtwirksames Handeln und den Folgen von Handlungen oder Ereignissen. |
| formelles Recht | Das formelle Recht regelt die Verfahren und Prozesse, die zur Durchsetzung und Handhabung des materiellen Rechts erforderlich sind, wie z.B. Zivilprozessrecht, Strafprozessrecht oder Verwaltungsrecht. |
| Naturrecht | Das Naturrecht ist eine Rechtsphilosophie, die davon ausgeht, dass es universelle, von der Natur oder göttlichen Vernunft abgeleitete Rechtsprinzipien gibt, die auch über positives Recht stehen und als Maßstab für dessen Gerechtigkeit dienen. |
| Gesellschaftsvertrag | Die Gesellschaftsvertragstheorie beschreibt die Entstehung staatlicher Herrschaft und die Beziehung zwischen Staat und Individuum als Ergebnis eines hypothetischen oder tatsächlichen Vertrages, bei dem Individuen zugunsten einer geordneten Gesellschaft auf bestimmte Freiheiten verzichten. |
| Rechtsdogmatik | Die Rechtsdogmatik ist die wissenschaftliche Untersuchung des objektiven Rechts, die sich primär auf die Analyse von Rechtsnormen, deren Systematik und deren logische Zusammenhänge konzentriert, auch als 'law in books' bezeichnet. |
| Rechtstheorie | Die Rechtstheorie (auch Rechtsphilosophie oder Rechtssoziologie) befasst sich mit den grundlegenden Fragen des Rechts, seiner Natur, seiner Funktion, seiner Entwicklung und seiner Beziehung zu anderen gesellschaftlichen Phänomenen. |
| Gerechtigkeit | Gerechtigkeit ist ein zentrales Ziel und Prinzip des Rechts, das sich auf die faire Verteilung von Gütern und Lasten, die Wiederherstellung von Gleichgewicht und die Achtung der menschlichen Würde bezieht und als Maßstab für die Beurteilung der Qualität von Rechtssystemen dient. |